wsEOeEKkbd2DyEp

Hadern – «Hauptstadt»-Brief #297

Samstag, 23. März – die Themen: Russland, Serena Tolino, Tiefenau-Spital, Anti-Rassismus, zweite Tramachse, Bauernproteste, Stadtbach, Theater an der Effingerstrasse.

rz_hauptstadt_brief_kaffee_weiss-2
(Bild: Marc Brunner, Buro Destruct)

Neulich traf ich eine alte Freundin. Uns verbindet, dass wir beide für einige Zeit in Russland gelebt haben. Während wir uns früher darüber austauschten, was unsere russischen Freund*innen gerade machen, stellte sich nun die grosse Ernüchterung ein.

Meine Freundin erzählte mir, dass eine gemeinsame Bekannte, nachdem ihre Datscha in der Nähe von St. Petersburg von der Polizei durchsucht worden war, ihre berufliche Tätigkeit beendet, ihre Organisation aufgelöst und nach Istanbul ausgereist sei. Ihr Vorteil ist, dass sie international vernetzt ist und deshalb auch woanders eine Zukunft haben wird. Nicht alle haben dieses Glück.

Wir überlegten – und stellten fest, dass sie die letzte unserer näheren Bekannten war, die noch in Russland geblieben war. Alle anderen haben Russland verlassen, zuerst tröpfchenweise, weil sie ein freieres und vielleicht leichteres Leben wollten. Seit zwei Jahren wurden aber auch die zur Ausreise gezwungen, die doch eigentlich bleiben und vor Ort etwas verändern wollten.

Wie naiv wir Kinder der 1990er doch gewesen sind: Russland erschien uns als grosses Versprechen, natürlich noch nicht frei, aber aufregend. Viele junge Menschen wollten dort etwas bewegen, es erschien auch möglich. Dass es ein bisschen gefährlich war, weil man ja auch schon in den 2000ern die russische Polizei fürchtete, machte die Sache nur spannender. Es wirkte wie ein Spiel auf uns.

Das Spiel ist aus, ich habe die Lage komplett unterschätzt. Putin und sein Regime halten die russische Gesellschaft, ja, das ganze dortige Leben auch in den nächsten Jahren eisern im Griff. Und dann beschäftigen wir uns hier in Bern mit Lokalpolitik, den nächsten Urlaubsplänen und alternativen Beziehungsformen, sagte ich desillusioniert zu meiner Freundin.

Worauf sie meinte: «Es ist auch ein Privileg, eine Errungenschaft der Demokratie, dass wir das überhaupt können.»

Amina, vertieft sich spät in der nacht noch in ihr Projekt der Universität Bern.
Amina vertieft sich spät in der Nacht noch in ihr Uni-Projekt. (Bild: Malika Talha)

Und das möchte ich dir mit ins Wochenende geben:

  • Islamwissenschaften: Der Schweizerische Nationalfonds hat die Arbeit von Serena Tolino, der umstrittenen Co-Leiterin des aufgelösten Nahost-Instituts an der Universität Bern, überprüft. Er attestiert ihrer Forschung «wissenschaftliche Qualität und Unabhängigkeit», wie Recherchen meines Kollegen Jürg Steiner ergeben haben. Tolino wurde letztes Jahr ein Betrag von 1,6 Millionen Franken zugesprochen für ein Projekt, das seit Anfang März 2024 läuft. Tolino geht in ihrem bis 2029 dauernden Vorhaben der Frage nach, wie sich das Verständnis von Arbeit in islamischen Rechtstraditionen seit dem Jahr 1000 verändert hat.  
  • Tiefenau-Spital: Ende Jahr schloss das Tiefenau-Spital. Seit Februar wird es vorübergehend als Notschlafstelle benutzt, wie das Regionaljournal berichtet hat. Damit ist Ende März wieder Schluss. Ab Herbst soll dann im ehemaligen Spital eine Asylunterkunft mit bis zu 820 Plätzen entstehen. Der Kanton Bern und die Stadt Bern haben einen zehnjährigen Mietvertrag unterzeichnet, wie sie am Donnerstag mitgeteilt haben. Im Hauptgebäude sollen Personen mit Flüchtlingsstatus, vorläufig aufgenommene Flüchtlinge und Personen mit Schutzstatus S wohnen. Im ehemaligen Operationstrakt werden Schulzimmer und Gemeinschaftsräume eingebaut. Mit den neu entstandenen Plätzen sollen auch unterirdische Unterkünfte aufgehoben werden können.
  • Rassismus: Zum Internationalen Tag gegen Rassismus am Donnerstag haben sich der Islamische Kantonalverband, die Jüdische Gemeinde Bern und die Stadt Bern für Frieden und ein respektvolles Miteinander ausgesprochen. Das Dokument «Gemeinsam Handeln», das auf der Website der Stadt Bern heruntergeladen werden kann, setzt auf Dialog und Nulltoleranz bezüglich «Rassismus, Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit». Zudem bilden die verschiedenen Akteur*innen eine Arbeitsgruppe, die konkrete Massnahmen ausarbeiten soll. Dies, nachdem Anfang Woche in der Sendung «Schweiz aktuell» Vorwürfe wegen Antisemitismus an Stadtberner Schulen laut geworden waren.  
  • Zweite Tramachse: In der Berner Innenstadt braucht es eine zweite Tramachse auf dem Abschnitt Hirschengraben und Zytglogge, das hat die öffentliche Mitwirkung ergeben. Unterschiedliche Standpunkte bestehen bei der Linienführung, wie die Regionalkonferenz Bern-Mittelland mitteilt. Zur Diskussion stehen drei Varianten. Die erste sieht die Linienführung durch die nördliche Innenstadt via Speichergasse–Nägeligasse vor. Die zweite würde das Tram via Lorrainebrücke–Viktoriarain zum Viktoriaplatz führen. Die dritte besteht aus der Linienführung via Bundesgasse–Kochergasse. Wegen der Differenzen wird nun erneut das Gespräch mit dem Bund gesucht. Zudem wird für jede der drei Varianten die technische Machbarkeit geprüft. Ziel ist es, bis 2026 eine beste Variante zu bestimmen.  
  • Bauernprotest Kirchberg: 634 Traktoren und etwa tausend Bäuerinnen und Bauern haben sich gestern Abend in Kirchberg versammelt. Mit den Traktoren schrieben sie gross «DIALOG» auf eine Wiese, wie der «Hauptstadt»-Korrespondent meldet. In Reden wurden die Detailhändler ermahnt, dass sie jetzt an der Reihe seien und die Wertschöpfungskette sich verändern müsse. Die Bauernproteste in der Schweiz sind vor einigen Wochen gestartet. Warum sie in seltener Einigkeit vom Biobauer bis zu agrarindustriellen Betrieben getragen werden, habe ich in diesem Text zu ergründen versucht.  
  • Stadtbach abgestellt: Wegen Reparaturarbeiten fliesst der Berner Stadtbach ab 25. März rund anderthalb Monate lang nicht mehr durch die Altstadt. Stattdessen wird er vom Untermattweg direkt in den Wohlensee geleitet, wie die Stadt mitteilt. Die Kunstintervention in der Gerechtigkeitsgasse mit dem aufwärts fliessenden Stadtbach ist während dieser Zeit nicht zu sehen. Aber immerhin: Die Brunnen werden weiterhin plätschern.  
  • Historisches Theaterstück: Genau jetzt, da Antisemitismus das grosse Thema ist, bringt Christiane Wagner, Leiterin des Theaters an der Effingerstrasse, das Stück «Der vergessene Prozess» auf die Bühne. Es geht darin um Antisemitismus, Neutralität der Schweiz und Liebe. Auch wenn das Stück beim historischen Stoff bleibt, könne man die Augen vor dem, was in der Welt passiere, nicht verschliessen, hat Christiane Wagner meinem Kollegen Jürg Steiner gesagt. Heute Abend ist Premiere.

PS: Lichterlöschen für den Klimaschutz: Heute Abend um 20.30 Uhr findet die weltweite Aktion «Earth Hour» statt. Für eine Stunde sollen die Lichter gelöscht und so ein Zeichen für den Klimaschutz gesetzt werden. In der Schweiz machen über 25 Gemeinden mit, darunter auch Bern. Und wer weiss, dass künstliches Licht für nachtaktive Tiere, insbesondere Insekten, eine Belastung ist, hat einen zusätzlichen Grund, für eine Stunde im Dunkeln zu bleiben.

tracking pixel

Das könnte dich auch interessieren